Vorwurf Wahlbeeinflussung und Betriebsrats-Mobbing bei Lamy in Heidelberg IG Metall hat Wahl angefochten und geht gegen Betriebsrats-Entlassung vor – Geschäftsführung kündigt Tarifverträge und Tarifbindung
Beim Schreibgeräte-Hersteller Lamy haben sich im Juli/August die Vorkommnisse überschlagen: Ende Juli hatte die IG Metall Heidelberg die im März 2018 durchgeführte Betriebsratswahl vor dem Arbeitsgericht angefochten. Grund: Eine „Vielzahl verschiedener gravierender Verstöße“ (Mannheimer Morgen, 03.08.) gegen das Betriebsverfassungsgesetz und die Wahlordnung bei Ablauf und Durchführung der Wahl. Anfang August kündigte die Geschäftsführung daraufhin das Betriebsratsmitglied Jürgen Böhm (bis zur Wahl Vorsitzender) außerordentlich, fristlos und verwies ihn per Hausverbot des Betriebes. Die derzeitige Mehrheitsfraktion im Betriebsrat leitete Mitte August ein gerichtliches Beschlussverfahren zum Ausschluss des Betriebsratsmitglieds aus dem Gremium ein. Am 21.08. hat die Geschäftsführung in einem Schreiben an die IG Metall weiter eskaliert: „Sämtliche bestehenden (14) Tarifverträge nebst Zusatzabreden (wurden) unter Einhaltung der Kündigungsfrist zum nächst möglichen Termin“ gekündigt und der Ausstieg aus der Tarifbindung erklärt.
Über eine einstweilige Verfügung zur sofortigen Weiterbeschäftigung des entlassenen Kollegen hat das Arbeitsgericht am 24.08. verhandelt. Drei Tage danach hat die IG Metall die Geschäftsführung zum „direkten Dialog“ aufgefordert, um die Streitpunkte Wahlanfechtung, Kündigung der Tarifverträge und Auflösung der Zusammenarbeit aus der Welt zu schaffen. Die Firma habe sich laut IG Metall kurz darauf auch bereit erklärt, hierfür einen Termin vorzuschlagen. Erste Gespräche sollen in der ersten September-Woche vorgesehen sein. Auch die Anwälte wollen sich erneut treffen, nachdem ein Termin am 28.08. erfolglos blieb. Gleichzeitig hat das entlassene Betriebsratsmitglied „zur Vermeidung von Zeitdruck“ den Antrag auf einstweilige Verfügung zur sofortigen Weiterbeschäftigung zurückgezogen. Das hierzu auf 31.08. festgesetzte Gerichtsurteil entfiel. Der Kammertermin zur Anfechtung der Betriebsratswahl ist vom Gericht auf 25.09.18 angesetzt. Die zunächst auf 18.09.18 festgelegte Verhandlung zum Beschlussverfahren (Ausschluss des Betriebsratsmitglieds aus dem Gremium) wurde auf 28.09. verschoben. Die Verhandlung der Klage gegen die Kündigung ist auf 19.11. terminiert.
„Über Geld reden wir nicht“
Am Gerichtstermin betreffend einstweilige Verfügung zur Weiterbeschäftigung haben am 24.08. im übervollen Saal und auf den Gängen rund 60 Unterstützerinnen und Unterstützer von Jürgen Böhm teilgenommen. Auch aus Mannheim waren Vertreter der Initiative gegen Betriebsrats-Mobbing mit entsprechenden T-Shirts gekommen. Die Anwältin der Firma sprach von „völlig zerstörtem Vertrauen“ gegenüber dem gekündigten Betriebsratsmitglied, in offensichtlicher Absicht, das Arbeitsverhältnis gerichtlich unter Abfindung auflösen zu lassen. Der Anwalt des Metallers lehnte dies kategorisch ab: „Über Geld reden wir nicht.“ Im Beisein von Presse und SWR-Fernsehen hat das Gericht erklärt, man sei „nicht sicher, ob ein Eilverfahren der richtige Weg“ sei und den Vorschlag eines „Gütegerichtsverfahrens mit Mediation“ gemacht. Während die Firmenanwältin dies „gerne der Geschäftsführung übermittelt hätte“, wurde der Vorschlag vom Rechtsanwalt des Betriebsratsmitglieds abgelehnt, weil dies bis zu zehn Wochen dauere. Darauf hat das Gericht nach knapp zwei Stunden den Beteiligten eine einwöchige Frist für gütliche Vergleichsgespräche gesetzt, ansonsten werde am 31.08. ein Urteil ergehen. In der Verhandlung hatte das Gericht aber angedeutet, eine einstweilige Verfügung im Eilverfahren sei nur möglich, wenn die Kündigung „völlig offensichtlich“ und „für jeden erkennbar unbegründet“ sei. Es handele sich hier jedoch um einen nicht gänzlich geklärten Vorgang.
Betriebsratswahl-Anfechtung – einmaliger Vorgang
Dass Beschäftigte oder die IG Metall sich zu einer Wahlanfechtung gezwungen sehen, daran kann sich in den letzten Jahrzehnten in Heidelberg niemand erinnern. Laut IG Metall lag die Zahl der Wahlberechtigten bei Lamy zum Zeitpunkt des Wahlausschreibens über 400, so dass 11 Betriebsratsmitglieder zu wählen waren. Der Wahlvorstand habe jedoch gesetzwidrig eine große Zahl der rund 100 zu der Zeit beschäftigten Leiharbeiter und befristet Beschäftigten nicht als Wahlberechtigte anerkannt und nur neun Betriebsratsmitglieder wählen lassen. Weiter wies eine der drei eingereichten Listen nicht die notwendige Zahl von Unterstützungsunterschriften auf, und es nahmen auch Personen an der Wahl teil, die nicht wahlberechtigt waren. Darüber hinaus sollen bei der Auszählung gültige Stimmen als ungültig gewertet worden sein.
Bewerbern einer Liste waren nach IG Metall-Angaben vor der Wahl von Führungskräften des Unternehmens außerdem besondere Vorteile gewährt worden: „Sie durften zum Beispiel Dienstgeräte während der Arbeitszeit für ihren Wahlkampf nutzen“ (nach Rhein-Neckar-Zeitung, 02.08.) und „Flugblätter auf Firmenpapier drucken“ (MM, 16.08.) Die Kandidaten der IG Metall-Liste seien dagegen in ihren Aktivitäten behindert worden und durften während der Arbeitszeit keine Infoblätter verteilen. Damit habe die Firma in den Wahlkampf eingegriffen, ihre Neutralitätspflicht verletzt, Manipulation betrieben und gegen demokratische Standards verstoßen, so die IG Metall. Wenn dem IG Metall-Antrag am 25.09. vom Gericht stattgegeben wird, muss die Wahl wiederholt werden.
IG Metall: Betriebsrats-Kündigung „ungeheurer Angriff“
Das gekündigte Betriebsratsmitglied Jürgen Böhm ist 58 Jahre alt und arbeitet seit 24 Jahren bei Lamy. Er war 20 Jahre Mitglied im Betriebsrat, jahrelang stellvertretender Vorsitzender und zuletzt bis Frühjahr 2018 vier Jahre Vorsitzender. Auch im IG Metall-Ortsvorstand ist er schon viele Jahre. Für die IG Metall handelt es sich um eine „fristlose Kündigung eines unbequemen Betriebsratskollegen aus völlig fadenscheinigen Gründen“. Laut IG Metall-Sekretär Türker Baloglu soll Jürgen Böhm in einer Besprechung, die schon über ein halbes Jahr her ist, angeblich „die Unwahrheit gesagt“ haben. Wenn überhaupt, sind „Kündigungen aus wichtigem Grund“ laut Gesetz nur möglich, wenn sie „innerhalb zwei Wochen nach Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen“ erfolgen. Der MM vom 16.08. schreibt: „Damals habe der Personalleiter den Betriebsratschef aufgefordert, auf einen Kollegen einzuwirken, der Ärger mit seinem Vorgesetzten hatte. Der Betriebsratschef habe dem Kollegen stattdessen einen Anwalt empfohlen – dem Personalleiter gegenüber später aber schriftlich behauptet, er habe versucht, den Kollegen im Sinne der Firma umzustimmen.“
Nach Einschätzung der IG Metall hat die Geschäftsführung ab Anfang August auf totale Eskalation gesetzt: „Der Umgang des neuen Geschäftsführers gegenüber den Beschäftigten und Gewerkschaftern im Besonderen ist ein Skandal“ (RNZ, 09.08.) Erst werde in die Betriebsratswahl eingegriffen, dann der ehemalige Betriebsratsvorsitzende gemobbt und schließlich offensichtlich falsch außerordentlich gekündigt. Der Kollege habe sich gegenüber dem Unternehmen stets loyal verhalten. Der neue Umgang sei besonders ungerechtfertigt, da die Beschäftigten gegenüber der Firma in wirtschaftlich schwierigen Zeiten durch Entgeltverzicht großes Entgegenkommen gezeigt hätten.
Die IG Metall sieht in den Vorgängen einen „ungeheuerlicher Angriff auf die gesetzlichen und gewerkschaftlichen Rechte der Beschäftigten im Betrieb“. Geschäftsführer Utsch greife mit seinem Verhalten nicht nur den ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden an, sondern schade der Belegschaft und letztlich der Marke Lamy. Offensichtlich habe die Geschäftsführung verhindern wollen, dass Kollege Böhm bei einer Neuwahl wieder in den Betriebsrat gewählt werde. Dass sich eine Mehrheit des Betriebsrats einem Kollegen gegenüber nicht solidarisch gezeigt habe, darüber sei die IG Metall „verärgert“: „Das macht man nicht.“
Die Unternehmensführung zeigte sich Anfang August gegenüber der Presse „überrascht“: Die Betriebsratswahl sei „nicht zu beanstanden“, alles sei „mit rechten Dingen zugegangen“. Man habe „die Wahl nicht beeinflusst“. Ebenso habe die Kündigung des Betriebsratsmitglieds „nichts mit der Wahlanfechtung zu tun“, es gebe „wirksame Gründe“. Auch der Betriebsrat habe der Kündigung zugestimmt. Das sei ein „Beleg“ dafür, dass ein „wichtiger Grund“ vorliege, wird eine Sprecherin des Unternehmens von der RNZ zitiert.
Die Firma in Heidelberg-Wieblingen ist bis heute Familienbetrieb, gegründet 1930 von C. Josef Lamy.
Nach 12 Jahren hat Miteigentümerin Vera Lamy Anfang Juni 2018 in einer Presseerklärung überraschend mitgeteilt, man habe sich von Geschäftsführer Rösner „aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über die strategische Ausrichtung“ getrennt. Auch mit der Digitalisierung sei man nicht schnell genug voran gekommen, heißt es offiziell. Selbst das „Handelsblatt“ kommentierte am 04.07. vielsagend: „Rösner hatte Lamy zurück zu alter Größe verholfen. Die genauen Gründe für die Veränderung an der Firmenspitze des Füllerherstellers sind nicht bekannt.“ Die neue Unternehmensführung besteht aus einem „Führungsteam“ mit Beate Oblau, Thomas Trapp und Geschäftsführer Peter Dan Utsch. Besonders letzterer, seit zehn Jahren im Betrieb, gilt laut IG Metall im Verbund mit Personalchef Volker Schirle (seit zwei Jahren bei Lamy) als Hardliner und Gewerkschaftsgegner.
„Wir haben in der jüngsten Zeit bereits vieles auf den Weg gebracht. Ein wichtiges Anliegen der neuen Geschäftsführung ist auch die Unternehmenskultur. Gemeinsam wollen die drei Geschäftsführer das Wir-Gefühl, das im Familienunternehmen Lamy stets eine große Rolle spielte, wieder stärker in den Mittelpunkt rücken. Das ist ganz im Sinne der Familie Lamy, die nach wie vor Inhaber des Unternehmens ist“ (zitiert nach lifePR/Lamy Shop GmbH). Vorauseilende Verteidigungshaltung und der Versuch der Belegschafts-Einbindung waren ebenso wenig zu überhören wie Andeutungen möglicher Verlagerungen oder sogar einer Unternehmensveräußerung, die als Gerüchte immer wieder mal im Betrieb umgingen.
Immer neue Spaltungsversuche durch die Geschäftsführung
Tatsächlich hat es die neue Geschäftsführung in wenigen Wochen geschafft, dass das Image des fast 90jährigen, renommierten Traditionsunternehmens nicht nur in der Region angeschlagen ist. In der Belegschaft ist nach den drastischen Maßnahmen der letzten Wochen Verunsicherung spürbar. Die Geschäftsführer haben am Tag der Kündigung sämtlicher 14 im Betrieb geltender Tarifverträge (mit Fristen zum 30.11.18 bis 31.12.19) eine „Mitarbeiterversammlung“ einberufen und die Belegschaft darüber in Kenntnis gesetzt.
Seit Anfang August hat die Geschäftsführung zu immer neuen Spaltungsmanövern gegriffen. Zuletzt gingen im Betrieb sogar Vordrucke für Gewerkschaftsaustritte um, in die nur noch Name und Unterschrift einzutragen sind. Bei der IG Metall sind allerdings nur wenige eingegangen. In der RNZ vom 18./19.08. war bereits aus einem „Offenen Brief“ an den IG Metall-Bevollmächtigen Mirko Geiger zitiert worden, unterzeichnet von einem Drittel der Beschäftigten: Die „aggressive und unfaire Kampagne gegen unsere Firma und die neue Geschäftsführung (sei) sofort zu stoppen“. Laut IG Metall war dies nicht der erste Brief dieser Art mit „erzwungenen Unterschriften“. In dem Brief heißt es weiter, vor allem Geschäftsführer Utsch sei „jeden Tag für die Menschen in der Fertigung da“. Man stehe auch hinter der Betriebsrats-Mehrheit. IG Metall-Sekretär Türker Baloglu stellt dagegen laut RNZ dazu fest: „Schon vor einigen Wochen, als die IG Metall die Betriebsratswahl angefochten hat, habe es einen solchen Brief gegeben, Damals hätten Beschäftigte bei der IG Metall angerufen und sich entschuldigt, dass sie den Brief unterschrieben haben – sie wollten nicht unter Beobachtung der Firma stehen, wenn sie nicht unterschreiben. Baloglu fordert Lamy-Geschäftsführer Utsch auf, diese ‘miesen Tricks’ zu unterlassen und keinen Druck auf die Beschäftigten auszuüben“.
Solidarität mit dem entlassenen Betriebsrats-Kollegen – Sofortige Wiedereinstellung!
Der Richter hat am 24.08. zur Kündigung vorab ausgeführt: Die Hürden für eine fristlose Entlassung eines Betriebsratsmitglieds, zudem auch laut Tarifvertrag aufgrund Alterssicherung nicht mehr ordentlich kündbar und darüberhinaus ohne vorherige Abmahnung seien im Allgemeinen sehr hoch. Die IG Metall sieht darin „eindeutige Signale“ und geht davon aus, dass Jürgen Böhm den Kündigungschutzprozess gewinnt. Der Lamy-Sprecher wird dagegen vom Mannheimer Morgen auch am 31.08. weiterhin zitiert: „Wir haben unseren Standpunkt mehrfach deutlich gemacht.“ Ob die Eigentümerfamilie oder der Lamy-Beirat die um sich schlagende neue Geschäftsführung mittlerweile etwas zurückgepfiffen haben oder noch zurückpfeifen, um eine weitere Zuspitzung zu vermeiden, wird sich zeigen.
Bei Jürgen Böhm und der IG Metall sind seit Anfang August nicht nur aus Heidelberger und Mannheimer Betrieben viele Solidaritätsschreiben eingegangen. Auch in Leserbriefen an die örtliche und regionale Presse wurde die sofortige Wiedereinstellung des entlassenen Interessenvertreters gefordert. Am 13.08. hat die IG Metall auch bundesweit über das Gewerkschafts- und Betriebsrats-Mobbing bei Lamy informiert („Lamy setzt den Tintenkiller an“). Überregionale Organe wie die „junge Welt“ („Lamy versucht Betriebsrat zu ‘löschen’“), „work watch“ („Lamy: Bossing, Union Busting beim Füllerkönig“) oder „labournet“ haben dies ebenfalls aufgegriffen. Am 17.08. hat das SWR-Radio ein im Internet aufzurufendes Interview mit Jürgen Böhm und Türker Baloglu gesendet. Bei der IG Metall Heidelberg sind, falls erforderlich, für die Zeit nach den Sommerferien anlässlich der Arbeitsgerichts-Verhandlung zur Anfechtung der Betriebsratswahl am 25.09 weitere Aktionen vorgesehen, auch in der Öffentlichkeit.
mho