Manifestationen gegen die Mordanschläge in Paris – beindruckend aber auch zwiespältig
scr – Es war beindruckend wie Millionen von Menschen in Paris und in vielen anderen Städten ihren Schmerz zum Ausdruck brachten und ein Zeichen setzten für Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit und religiöse Vielfalt. Das war auch in Mannheim der Fall, wo die Deutsch-Französische Vereinigung Rhein-Neckar e.V. zu einer Veranstaltung vor dem Rosengarten eingeladen hatte. Dort sprachen der OB, der Honorarkonsul der Fanzösischen Republik, MdEP Simon (SPD), MdB Schick (Grüne), die Gemeinderäte Kranz (CDU), Weizel (ML) und Trüper (Linke) sowie eine Vertreterin der französischen Gemeinde in Heidelberg.
Und doch haben diese Manifestationen auch etwas Zwiespältiges und Bedrückendes. Die Reden bewegten sich fast alle in einem Rahmen „Angriff auf die Grundwerte der Demokratie muss abgewehrt werden – Punkt aus – kritische Zwischentöne oder Nachfragen haben zu unterbleiben“.
In Mannheim wollten einige der über 1.000 Menschgen vor dem Rosengarten, die 5-minütige Rede von dem linken Stadtrat Thomas Trüper nicht hören und haben ihrem Unmut lautstark freien Lauf gelassen. Dass es keine „parteipolitische Rede“, wie der Veranstalter und später der Mannheimer Morgen behaupten, kann der/die geneigte LeserIn selbst feststellen.
Deshalb haben wir die Rede von Thomas Trüper dokumentiert. Ebenso einen Auszug einer kritischen und sehr lesenswerten Beurteilung der NachDenkSeiten.
Rede von Thomas Trüper, Sprecher DIE LINKE Mannheim, Stadtrat
Sehr geehrte Damen und Herren,
das Massaker von Paris, dessen Opfer wir heute gedenken, wird zu Recht vor allem als Gewaltverbrechen gegen die Pressefreiheit aufgefasst. Die Pressefreiheit ist eine wesentliche Errungenschaft der Demokratie und ein wesentliches Freiheitsrecht.
Aber das Verbrechen hatte – offenbar gut koordiniert – zwei Schauplätze: Charlie hebdo und einen jüdischen Supermarkt, und gestern gab es noch einen Anschlag auf eine Synagoge in Paris. Damit wird noch deutlicher, um was es den Tätern ging.
70 Jahre nach Ende des letzten in Mitteleuropa geführten Krieges müssen wir zur Kenntnis nehmen: Europa ist an seinen Außengrenzen an vielen Kriegen aktiv beteiligt. Aber Ausläufer dieser Kriege brechen immer wieder ins Herz unserer Gesellschaften ein. Kriege brutalisieren Menschen. Das konnte man vor 100 Jahren erstmals als Massenphänomen beobachten. Und auch das konnte man vor 100 Jahren schon beobachten: Kriege verwirren die Hirne, die Auffassungen und Wahrnehmungen der Menschen. Sie setzen Fanatismus voraus und produzieren Fanatismus.
Wenn wir solche Entwicklungen aktuell stoppen wollen, müssen wir den Fanatismus austrocknen, ihm seine Entwicklungsräume und Resonanzkörper entziehen. Dazu gehört eine Migrationspolitik, die nicht Tausende in die Sackgasse führt. Darüber, wie Kriege beispielsweise in Afrika und Nahost beendet werden können, die zur Auflösung ganzer Staaten geführt haben, gibt
es großen Streit in den westlichen Zivilgesellschaften. Aber wir müssen diesen Streit weiterführen; denn bisher hat sich die Lage nur verschärft.
Wir sind alle vereint im Schmerz und in der Wut über die Bluttaten. Deswegen stehen wir hier. Und wir sind sicherlich auch vereint in dem Willen, die Errungenschaften der Demokratie nicht zerstören zu lassen. Wir dürfen sie aber auch im Kampf um die Erhaltung der Demokratie und des inneren Friedens nicht selbst zerstören. Zu letzterem bedarf es noch vieler Diskussionen.
Nicht nur Kriege desorientieren und brutalisieren Menschen. Auch die internationale Verflochtenheit unserer Wirtschaften desorientiert viele Menschen. Dass unsere Wirtschaften mehr Rohstoffe verbrauchen als sie haben und mehr Waren produzieren, als sie konsumieren, nach mehr und billigeren Arbeitskräften verlangen als vorhanden, dass es eine Migration von Waren, Kapital und Menschen gibt, wird von vielen Menschen als Unordnung empfunden. Sie suchen nach einfachsten Erklärungen und greifen nach ethnischen oder religiös verbrämten Ordnungssystemen, die ihnen von Scharlatanen und Fanatikern geboten werden. Die „Ausländer raus“-Parolen, die Verherrlichung eines voraufklärerischen „Abendlandes“, die Verfolgung drakonischer – meist selbst erlassener – angeblich religiöser Ordnungsregeln: all dies ist aus einem Holz geschnitzt. Das gilt für die angeblichen Gotteskämpfer auf der einen Seite und die Ausländerjäger auf der anderen Seite.
Die Verdrehung tatsächlicher sozialer, wirtschaftlicher und machtpolitischer Konflikte in angeblich religiöse oder völkisch-ethnische Konflikte ist ein wesentlicher Kern ihrer Hetze. Lasst uns über solche Konflikte weiterhin offen reden und auf friedliche Art Lösungen und Interessenausgleich suchen. Und wir finden ja auch auf unterer Ebene Lösungen und setzen sie um. Verweigern wir uns aber den verdrehten angeblich religiösen und ethnisch-völkischen Debatten.
Marie Le Pen sagte nach den Massakern: „Keep Calm and Vote Le Pen!“ (Wir regeln das dann schon nach unseren Methoden) Wir sagen auch in Deutschland: Nein – wir bleiben nicht ruhig. Wir empören uns.
Wir stehen zusammen in der Verteidigung von Demokratie und Freiheitsrechten, von Menschenrechen, und wir stehen ein für soziale Gerechtigkeit, internationale Verständigung und Frieden!
(Anm.: Die kursiven Abschnitte wurden aufgrund der Unruhe und Missfallensäußerungen eines Teils der Versammlung – beginnend etwa ab der zweiten Hälfte des Beitrags – nicht mehr vorgetragen.)
Albrecht Müller, Herausgeber der NachDenkSeiten, Nationalökonom, in den 1970er Jahren u.a. verantwortlich im Planungsstab des Bundeskanzleramts für Willy Brandt und Helmut Schmitt:
„Die westliche Politik nutzt das Verbrechen (der Mordanschlag in Paris, die Red.), um ideologisch aufzurüsten: die Morde waren ein Anschlag auf unsere „Werte“, auf die Freiheit und insbesondere auf die Pressefreiheit, auf die Demokratie. – Damit wird vergessen gemacht, wie wertlos, wie wenig orientiert an Grundwerten der Menschlichkeit und Brüderlichkeit die Politik geworden ist. Es wird vergessen gemacht, dass es die vielbeschworene Wertegemeinschaft gar nicht gibt. Wo ist denn die Brüderlichkeit bei der Übertragung der sogenannten Reformpolitik auf Griechenland und andere Länder? Wo ist denn die Brüderlichkeit im Umgang mit den Menschen in Staaten, die der Westen destabilisiert hat? Wo ist denn die Gerechtigkeit geblieben? Und wo ist die Freiheit in Guantanamo geblieben? Und an vielen anderen Orten der Welt?“ (Dies ist ein Auszug eines Artikels von Albrecht Müller vom 12.01.2015. Der vollständige Text ist unter NachDenkSeiten.de nachzulesen)